VITA

1971
geb./born

Studium/studied in/at Leipzig Diplom/Diploma

AUSSTELLUNGEN-AUSWAHL / SELECTED EXHIBITIONS

2023
„Revier” SEQUENCE #4, Kunstverein Bochum
„Ratio / Fata Morgana” MEWO Kunsthalle Memmingen

2022
„Re:connect – Human Electricity“ MaHalla Berlin
„Follow“ Galerie Peripherie Sudhaus Tübingen

2017
„Input/Output“ Museum Goch

2016
2016 „Rotation I“ Landesmuseum Wiesbaden

2015
 „Translation-Suggestion“ Kunstverein und Kunsthaus Viernheim
„Transflexion-Net of Mirrors“ – Europäisches Künstlerhaus Freising

2013
„Pendulum“ Deutsches Filmmuseum Frankfurt/Main
„Reinraum II“ Galerie Morgen Contemporary Berlin
„Luminale“ Frankfurt/Main

2012
„Licht an! – Das Nachtmuseum“ Erfurter Kunstverein
„Bis hierher“ Kunstmuseum Bochum

2011
„Spin“ Kasseler Kunstverein
„Shift“ Deutsches Filmmuseum Frankfurt/Main
„Immersive Surfaces“ Brooklyn, New York

2010
KingKong Contemporary art project Mannheim
„Display“ Frankfurt/Main
„Zero“ Galerie Rote Zelle Kunst Mannheim

2009
„Antirepresentationalism“ Galerie KOW Berlin
„Curators choice“ Art Factory Karlsruhe
„art scout one“ Zeitgenössische Kunst in Mannheim

2007
„Das Kabinett“ Museum der Bildenden Künste Leipzig

2006
„Reinraum I“ Kunstverein Bochum

2004
Hector Preis Kunsthalle Mannheim
„Die verborgene Tat“ Kunstverein Langenhagen
„Revier“ Museum der Bildenden Künste Leipzig
„Der Sprung im Wasserglas“ Kunstraum B/2 Leipzig

2001
„Changing Places“ Kasseler Kunstverein
„ Leuchtspur“ MMK Frankfurt/Main

2000
Unsquare Dance“ Galerie Eigen+Art Leipzig

1998
„Casino“ Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig
„Cusanuswerk“ Westfälischer Kunstverein Münster

1997
„Zähle, was zählbar“ Galerie Paula Böttcher Berlin

Auf Null (DE)

Wir können davon ausgehen, dass es Dinge gibt, die wir nicht sehen, weil sie dem Auge verborgen bleiben: hinter der Jalousie, hinter verschlossenen Türen oder der Spiegelung einer Fensterscheibe. Das Denken wird zurückgeworfen auf ein Feld der Möglichkeiten und Spekulationen. Das Auge sucht die Oberfläche ab, der Apparat beginnt zu surren.
Mit dem Eintreten in das Projektionsfeld verschwimmen die Grenzen zwischen Raum und Oberfläche, zwischen Gegenwart und anderen Zeitströmen, zwischen Situation und Simulation.
Die Videoarbeiten und -installationen von Thomas Lüer konzentrieren sich auf wenige, überschaubare Elemente: zwei Personen, gestikulierend; ein Hund im „Bau“, ein zu den Betrachern sprechender Avatar, der Gesichtsausschnitt eines Träumenden, Architekturen. Dass sich durch diese Reduktion eine Komplexität herstellt, die in ihrer Aufspaltung in eine Vielzahl von Ebenen auch zeitnahe, politische wie historische Themen anzusprechen versteht, darin besteht die Kunst von Thomas Lüer.
Die zeitnahe Brisanz – und das eigentliche Agens der Arbeiten – ergibt sich aus seinem intuitivem und oftmals auf lokalen Zufällen basierendem Zugang zu bereits „so vorgefundenen“ Realitäten. Ein immer wiederkehrendes, konstituierendes Element etwa sind Arbeitswelten und öffentliche Räume, sowohl als Ort der Aktion wie auch der Installation. Vieles entsteht als „Impromtu“ und aus dem Zusammenhang heraus, aus dem Eintauchen in einen Ort und dem Auftauchen unvorhergesehener Details. Seine Installationen passen sich der Umgebung chamäleonhaft an: ein Fenster neben anderen Fenstern, ein Zugang statt eines anderen, ein Raum im anderen Raum.
Lüers projektives Mapping wendet sich dabei eher unzugänglichen Territorien zu, denen eines stets gemeinsam ist: Die gelegentlich nach außen getragene „Transparenz“ oder Öffentlichkeit ist zugleich ihr bestes Versteck – ob es sich nun um die dünne Atmosphäre der Managerwelt handelt, um virtuelle Persönlichkeiten oder das seklusive Universum der Teilchenphysik.
Seine Beobachtungen fußen auf dem Paradox einer Welt, die sich in ihrer ausufernden Komplexität kontinuierlich selbst um ihre Verständlichkeit bringt. Kausalität war gestern. Und doch wird unaufhörlich sogenannt fundiertes Wissen aufbereitet, um einer interessierten Öffentlichkeit die Vorstellung einer erklärbaren oder sogar sinnvollen Welt zu suggerieren. Es ist kein Zufall, dass die Mehrzahl der Videoarbeiten in Thema und Struktur dem Bereich wissenschaftlicher Forschunsvermittlung entlehnt sind. Entsprechend einem Testdurchlauf der Möglichkeiten sind die Bildabläufe von experimentellen Versuchsanordnungen inspiriert oder werden mittels improvisierter Explorationshilfen umgesetzt: In einer frühen Arbeit beispielsweise läuft ein Hund mit montierter Infrarot-Kamera durch die leeren Gänge des einstigen Museum der bildenden Künste Leipzig – wobei das Sichtbare quasi aleatorisch und verfremdet zugleich beim Betrachter ankommt („Revier“, 2002).
Lüers Augenmerk richtet sich auf eine empirische Praxis, die sich in derart unendliche Mannigfaltigkeiten aufgegliedert hat, dass sie – abgeschirmt, exklusiv und elitär – eigentlich nicht mehr überprüfbar und somit zu einem Rätsel geworden ist. Was geht vor sich in den Laboratorien der Photonenbeschleuniger? Welchem theoretischen Modell folgt eine Versuchsanordnung und was bedeutet dies? Und für wen?
Nicht alles Nicht-Öffentliche ist verborgen, weder das sogenannte Private noch das Exklusive. Und nicht alles Öffentliche ist automatisch sichtbar. In einer Gegenwart, die von einer Allgegenwart allverfügbarer Daten durchdrungen ist und in der Kriterien wie „öffentlich“ und „privat“ einer Mimikry funktioneller Vorstellungswelten, die inzwischen jenseits aller empirischen Nachprüfbarkeit liegen, gewichen sind, machen Installationen wie „Spot“ (2008) oder „Spin“ (2010) jene Ein- und Ausgänge der Informationsaufbereitung sichtbar, die ansonsten nur unbemerkt bemerkt werden. Die auf die simulative Struktur ihrer Sujets herunter gerechnete Projektion legt die Strukturen der szientistischen Aura frei und verknüpft sie auf sehr direkte Weise mit unserer unmittelbaren Umgebung.
Mit „Facies“ (2004) gewinnen Tonschleifen in Thomas Lüers Arbeiten an zunehmender Bedeutung. Sporadisch, asynchron, heterogen, uneindeutig und repetitiv greifen sie akustisch in die Bildabfolgen ein und schaffen eine zweite Gleichzeitigkeit, die einerseits an das Video, andererseits direkt an die aktuelle Umgebung gekoppelt ist. Sei es, dass wie bei „Reinraum“ (2010) zwei Tonquellen – Videospur und Kofferradio – verwendet werden, oder wie in „Cooperate“ (2010) eine bereits vieldeutige Hintergrundspur um die zweisprachige Anweisung zur Kooperation erweitert wird. Das Ergebnis ist beunruhigend, da der Ton in seiner Ambivalenz die möglichen Deutungsebenen des Visuellen verdoppelt.
Der Widerschein seiner Arbeiten mag im Betrachter so etwas wie Geistesblitze hervorrufen, jene schlaglichtartigen Momente, in denen sich eine Struktur oder ein Zusammenhang vor der Netzhaut abbildet und das Andockmanöver an die Wirklichkeit seinen Lauf nimmt. Thomas Lüer inszeniert seine Fragestellungen und Settings als eine Reinfiltration der Realität, die geradezu beilläufig daherkommt: als Projektion an und in Fenstern, Ladengeschäften, Häuserwänden. Oder als Raum im Raum samt parallelem Zeitkontinuum. Oder als experimenteller Konnex zwischen White Cube und Black Box, in dem die transzendierte Versuchsanordnung nun museal verortet wird. Und doch liegt dieser letzten Verschiebung der öffentlichen Sphären weder ein Ankommen in gesichertem Territorium noch ein Entkommen aus der fließenden Welt des Außen. Sondern wieder einmal werden lediglich die Zeiger auf Null gestellt, Strom fließt und der Apparat beginnt zu surren.

Gabi Schaffner, 2011

Reset (EN)

We may assume that there are things we do not see because they remain concealed from our view: behind a blind, behind closed doors or the reflection of a window pane. Our thinking is thus thrown back onto a field of options and speculations. The eye scans the surface; the machine begins to hum. When entering this field of projection, boundaries dissolve – boundaries between space and surface, between the present and other streams of time, between situation and simulation.
The video works and installations of Thomas Lüer focus on a few comprehensible elements: two persons, gesturing; a dog in a “burrow”, an avatar speaking to the observers, the facial expression of a dreaming person, architectural structures. Through this reduction, a complexity emerges, which, broken down into a multitude of different levels, is at once capable of addressing contemporary, political and historical topics. Precisely in this discerning reduction lies the art of Thomas Lüer.
The current topicality – and basic driving force of the works – stems from his intuitive approach to “encountered realities” and quite frequently is even based on local coincidences. Reoccurring, constituent elements are, for example, the world of work and public spaces, involving both the place of action itself and the place of installation. Much of the work develops as an “impromptu” and arises from the context, by being fully immersed in a particular place and by the surfacing of unexpected details. His installations adapt in a chameleon-like manner to their environment: a window next to other windows, an entrance at the place of another, a space within a space.
Lüer’s projective mapping turns its attention towards rather inaccessible territories, which always have one thing in common: Their occasionally extraverted “transparency”, or public sphere, at the same time serves them as the ideal hideaway – whether this concerns the thin atmosphere of the manager world, virtual characters or the seclusive universe of particles physics. His observations are based on the paradox of a world that, in its exuberant complexity, continually relinquishes its claim to comprehensibility. Causality is a thing of the past. And yet, so-called profound knowledge is constantly being processed and prepared in order to suggest to an interested public the notion of an explicable or even meaningful world. It is no coincidence, that the majority of the video works, in terms of their theme and structure, are borrowed from the realm of scientific research mediation.
Equivalent to a test run of possibilities, the image sequences are inspired by experimental set-ups or are realized through improvised explorative devices: for example, in an early work, a dog that strolls through the empty halls of the former Museum für bildende Künste in Leipzig with an infrared camera mounted on his head – bringing all that is visible to the viewer in a quasi aleatoric and at the same time alienated manner (“Revier”, 2002).
Lüer concentrates on a kind of empirical practice, that is fragmented into manifold parts; so much so that – shielded, exclusive and elitist – it is actually no longer verifiable and thus has evolved into an enigma. What is going on in the laboratories of the photon accelerators? To which theoretical model does an experimental set-up adhere to and what does this imply? And for whom?
Not everything considered non-public is hidden, neither the so-called private nor the exclusive domain. And not everything that is public automatically is visible. In our present day and age, permeated by an omnipresence of unconditionally available data, where criteria like “public” or “private” have yielded to a mimicry of functional worlds of imagination that have exceeded any form of empiric verifiability, installations like “Spot” (2008) or “Spin” (2010) make the ins and outs of information processing visible, mechanisms which otherwise are noticed only subconsciously. His projections, broken down to a merely simulative structure of their actual subjects, thus reveal the underlying structure of the scientistic aura and, in a very direct manner, connect it to our immediate surroundings.
With “Facies” (2004), sound loops become increasingly relevant in Thomas Lüer’s work. In a sporadic, asynchronous, heterogeneous, ambiguous and repetitive manner, they interfere acoustically with the image sequences, thus producing a second level of simultaneity, at once coupled to the video itself as well as directly to the respective environment. This may, as in “Reinraum” (2010), take the form of two concurrent acoustic sources – video track and portable radio. In the case of “Cooperate” (2010), moreover, an already ambiguous sound track heard in the background is supplemented by a bilingual instruction to cooperate. The resulting impression is unsettling, for the sound, in its ambivalence, doubles possible interpretations of the visual impact.

Reverberations of the artist’s works may trigger in the observer flashes of insight, those rare highlighted moments, in which a structure or coherence is generated on our retina and the docking maneuver to reality takes its course. Thomas Lüer stages his issues and settings as a re-infiltration of reality that appears to be almost incidental: as projections on and in windows, shops and walls of buildings. Or as a space in a space complete with the parallel time continuum. Or as an experimental nexus between white cube and black box, in which the transcended experimental set-up is now being exhibited – the museum. Yet, neither an arrival on secure territory, nor an escape from the ever-flowing exterior world is underlying this final displacement of the public sphere. But, once more, the pointers are set back to zero, electricity flows, and the machine begins to hum.

Gabi Schaffner, 2011 (translation Barbara Lang)